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Autismus: Erste Hilfe – für Betroffene – für Angehörige – für Fachkräfte

Nicht jede Krise ist sichtbar. Und nicht jeder Rückzug ist freiwillig.
Viele autistische Menschen erleben in stressreichen Situationen sogenannte Meltdowns oder Shutdowns – das sind keine Wutausbrüche oder Trotzreaktionen, sondern neurologisch bedingte Überforderungsreaktionen des Nervensystems.

Damit in solchen Momenten Hilfe möglich wird – und nicht noch mehr Stress entsteht – finden Sie hier Erste-Hilfe-Strategien für drei Perspektiven. Diese erheben keinen Allgemeingültigkeitsanspruch, können aber bei vielen Betroffenen helfen:

👤 Für Betroffene

  • Erkenne die Warnzeichen. Müdigkeit, Lichtempfindlichkeit, Geräuschverstärkung, „innere Unruhe“, Koordinationsstörungen oder Gedankenrasen können erste Hinweise sein.
  • Zieh dich zurück, bevor es kippt. Wenn möglich, verlasse die Reizquelle. Kopfhörer, Sonnenbrille, Rückzugsort – das darf geplant sein.
  • Druck rausnehmen. Du musst nichts erklären. Es ist okay, nicht mehr zu sprechen. Notfallkarten, Apps oder ein vorformulierter Satz können helfen: „Ich brauche jetzt Ruhe, sonst passiert was.“
  • Reize runter, Körper beruhigen. Dunkelheit, Decke über dem Kopf, schaukeln, Kälte (z. B. kaltes Wasser) oder Reizabschirmung helfen deinem Nervensystem zu resetten.
  • Nachsorge nicht vergessen. Shutdowns und Meltdowns sind körperlich anstrengend. Plane Erholung ein. Gönn dir Schonzeit. Nimm deine Reaktion ernst – sie war ein Alarmzeichen deines Körpers.

🫂 Für Angehörige

  • Nicht diskutieren, nicht berühren, nicht beschleunigen. Auch gut gemeinte Hilfe kann den Zustand verschlimmern. Bleib präsent, aber zurückhaltend.
  • Rückzug respektieren. Auch wenn es schwerfällt – manchmal ist Alleinlassen die größte Form der Unterstützung.
  • Signale kennen. Viele Autist:innen zeigen vor einem Meltdown subtile Zeichen – Reizbarkeit, Körperspannung, Stimming, veränderte Sprache, veränderte Körperhaltung, spezifischer Blick. Lerne diese zu lesen (Tagebuch).
  • Nach dem Meltdown: kein Vorwurf. Schuldgefühle machen alles schlimmer. Frag lieber: Was hat dir geholfen? Was brauchst du, um dich wieder sicher zu fühlen?

🧑‍⚕️ Für Fachkräfte

  • Meltdown ≠ Verhaltenstörung. Es ist eine neurologisch bedingte Überlastungsreaktion, kein Ausdruck von Unwillen.
  • Intervention = Deeskalation. Senken Sie Reize (Stimmen, Licht, Ton), entfernen Sie Zuschauer:innen, bieten Sie klare Rückzugsmöglichkeiten.
  • Sprachverzicht als Schutz. Verzichten Sie auf Fragen in der Akutsituation. Viele Betroffene können nicht mehr antworten – das ist kein Trotz, sondern Shutdown.
  • Hinterher: Kontakt anbieten – nicht aufzwingen. Ein ruhiger, wertschätzender Satz wie „Ich bin da, wenn Sie später sprechen möchten“ reicht oft aus.
  • Langfristig: Klare Sprache, verlässliche Abläufe, antizipierbare Übergänge. Das reduziert systemisch die Notwendigkeit solcher „Erste Hilfe“-Situationen.

📌 Gut zu wissen

  • Der Kreislauf von Reizüberflutung → Kompensation → Überlastung → Meltdown/Shutdown ist in vielen Fällen vorhersehbar.
  • Stressverarbeitung bei Autist:innen folgt anderen Regeln – sie benötigen oft viel mehr Zeit zur Erholung.
  • Hilfe bedeutet nicht: etwas „wegmachen“. Sondern: Raum schaffen, Signale verstehen, Sicherheit ermöglichen.


👤 Für Betroffene – weitere Erste-Hilfe-Momente

  1. Nach sozialem Kollaps (z. B. Smalltalk, Gruppeninteraktion, peinlicher Moment): „Ich habe mich blamiert / zu viel gesagt / nichts gesagt.“ Erste Hilfe: Reizreduktion + Selbstberuhigungstechniken + Positivanker (z. B. Musik, Routine).
  2. Nach ungewollter Konfrontation (z. B. Streit, Grenzüberschreitung, aggressives Gegenüber): Rückzug legitimieren, Grenze nach innen ziehen, ggf. Selbstschutzplan (z. B. Codewort, Notiz in Handy: „Das war zu viel“).
  3. Bei plötzlichem Blackout oder Wortverlust (Shutdown light): Kommunikative Brücke – vorformulierte Satzkärtchen, Apps, Körpersprache, Toleranz mit sich selbst.
  4. Verlust der Tagesstruktur (z. B. Plan bricht zusammen, Termin fällt aus): Mini-Routinen einbauen („erste drei Schritte“), To-do-Anker nutzen, Reiz-Kompensation.

🫂 Für Angehörige – weitere Notfälle oder Unsicherheiten

  1. „Ich komme nicht mehr an mein Kind / Partner:in ran“ (emotionaler Rückzug, Shutdown): Nicht drängen. Sichtbare Nähe statt Gespräch: Präsenz zeigen, aber Interpretationsdruck nehmen.
  2. Wutausbruch / Reizüberladung „ohne Vorwarnung“: Nicht argumentieren! Eher schützende Distanz halten, „Ich bleibe ruhig“ wiederholen, erst nach der Situation sortieren.
  3. Angstreaktionen bei Übergängen (z. B. Schule, Arzt, Fahrt): Visualisierungen, Ankerobjekte, gemeinsame Vorbereitung. Atemübungen oder Zähltechniken. Eventuell Rückfallebene (z. B. gemeinsam absagen).
  4. Überlastung durch Sinneseindrücke (Geruch, Geräusch, Licht): Umgebung sofort verändern, Ohrstöpsel/Sonnenbrille bereithalten, Reize nicht kleinreden.

🧑‍⚕️ Für Fachkräfte – kritische Situationen im Praxisalltag

  1. Klinik/Praxis: Person spricht plötzlich nicht mehr oder wird auffällig still: Nicht interpretieren. Kurze, klare Sätze. Reize runter. Wartezeit akzeptieren.
  2. Kita/Schule: Kind rennt plötzlich weg / weint / wirft sich auf den Boden: Rückzugsort ansteuern. Mimik und Stimme regulieren. Kein Körperkontakt ohne klare Zustimmung.
  3. Beratung/Kontaktaufnahme scheitert trotz gutem Willen: Kommunikationsform wechseln (schriftlich?), Zeit geben. Metakommunikation anbieten: „Wie kann ich helfen, ohne dass es zu viel wird?“
  4. Hilfeplanung stockt, Person scheint „verweigernd“: Reframing. Nicht „Verweigerung“ – sondern vielleicht Überforderung. Klärung statt Interpretation.

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