Menü Schließen

Autismus + ADHS

Autismus + ADHS: Zwei Seiten einer Medaille?

Früher galt: Autismus (ASS) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) schließen sich gegenseitig aus. Heute weiß man: Die reale Überschneidung der Symptome liegt nach aktuellen Studien bei etwa 50–70 %. Die gleichzeitige Ausprägung beider Störungsbilder wird in Fachkreisen zunehmend unter dem Begriff AuDHS oder Autismus-ADHS-Kombination diskutiert – auch wenn diese noch keine eigenständige Diagnose im ICD-10 oder DSM-5 darstellt.


Viele Betroffene erleben sich jedoch nicht nur „doppelt betroffen“, sondern auf eine ganz eigene Weise herausgefordert. Denn die beiden neurodivergenten Profile verstärken oder überlagern sich häufig, mit komplexen Auswirkungen auf:

  1. Reizverarbeitung & Sensorik
    Menschen mit AuDHS erleben häufig eine paradoxe Reizverarbeitung: Autistische Reizempfindlichkeit führt zu Überforderung. ADHS wiederum ist häufig mit Reizunterempfindlichkeit und einem hohen Bedürfnis nach Stimulation verbunden. Das Resultat ist ein Spannungsfeld aus gleichzeitiger Über- und Unterstimulation. Viele Betroffene berichten, dass sie sich einerseits zurückziehen müssen, weil alles zu viel wird – und andererseits ständig Bewegung, Geräusche oder Sinneseindrücke suchen, um ihr inneres Gleichgewicht zu finden.

Wissenschaftlicher Kontext: Studien mit funktioneller Bildgebung zeigen bei AuDHS atypische Aktivitätsmuster in sensorischen Netzwerken, insbesondere im präfrontalen Cortex und der insulären Rinde (Rommelse et al., 2010).


  1. Emotionen & Regulation
    Die Emotionsregulation ist bei AuDHS oft besonders instabil: Autistische Personen beschreiben Emotionen häufig als tief, langsam verarbeitend und schwer zugänglich. Bei ADHS überwiegt dagegen eine Impulsivität, die zu plötzlichen Wutanfällen oder Stimmungsschwankungen führen kann. In Kombination können emotionale Taubheit und explosive Gefühlsausbrüche direkt aufeinander folgen – was zu Rückzug, innerem Chaos und einem Gefühl von Kontrollverlust führt.

Forschungshinweis: Mazefsky und Kolleg:innen beschreiben bei Autismus eine gestörte Integration zwischen Amygdala und präfrontalem Cortex – ein Bereich, der auch bei ADHS betroffen ist, was die emotionale Dysregulation bei AuDHS zusätzlich verschärfen kann.


  1. Soziale Kommunikation
    Smalltalk, Ironie oder nonverbale Signale stellen bei AuDHS eine doppelte Herausforderung dar: Autismus kann dazu führen, dass soziale Codes schwer verständlich sind. ADHS bringt häufig Sprachflut, Ablenkbarkeit oder Themenwechsel mit sich. Ein häufiger Eindruck bei Gesprächen ist: Jemand redet stundenlang über ein Spezialinteresse (ASS), springt dabei jedoch sprunghaft von einem Gedanken zum nächsten (ADHS). In anderen Momenten erscheint jede Interaktion als zu anstrengend oder verwirrend – vor allem, wenn soziale Signale nicht sicher interpretiert werden können.

Studie dazu: Die COMORB-Studie fand bei Kindern mit AuDHS eine höhere Rate an sozialen Funktionsstörungen als bei „reinen“ Autismus- oder ADHS-Diagnosen.


  1. Struktur & Routinen
    Zwischen dem autistischen Bedürfnis nach Planbarkeit und Wiederholung und der ADHS-typischen Schwierigkeit, Aufgaben zu beenden oder dran zu bleiben, entsteht bei AuDHS ein innerer Widerspruch: „Ich weiß genau, wie mein Alltag aussehen müsste – aber ich komme nicht hin.“ Die Folge ist oft Frustration, Selbstzweifel und das Gefühl, „nicht zu funktionieren“. Erst mit individuell angepassten, flexiblen Routinen und hilfreicher Umgebungsgestaltung (Stichwort: „neurodivergente Ergonomie“) kann sich ein stabiles Alltagsgerüst entwickeln.

Studienbefund: Bei Jugendlichen mit komorbidem ADHS und Autismus zeigte sich eine signifikant erhöhte Problematik im exekutiven Funktionieren, insbesondere bei Planungs- und Umsetzungsprozessen.


  1. Warum wird AuDHS so selten erkannt?
    Die Diagnostik hält häufig an einem „entweder–oder“-Paradigma fest: Entweder Autismus oder ADHS – obwohl beide Störungsbilder nicht nur gemeinsam auftreten können, sondern auch symptomatisch überlappen. Hinzu kommen: Masking-Strategien, Veraltete Klassifikationssysteme (z. B. ICD-10), Fehlende Schulung der Diagnostiker:innen im Umgang mit multipler Neurodivergenz, Hohe Komplexität der Symptomkonstellationen.

Viele Betroffene erhalten daher erst im Erwachsenenalter oder nach langer Odyssee durch das System eine passende Beschreibung ihres Erlebens.


Merkmal ADHS Autismus AuDHD (Kombination)
Aufmerksamkeit Leicht ablenkbar, Konzentrationsschwierigkeiten Hyperfokus auf spezifische Interessen Unbeständige Aufmerksamkeit, Probleme mit Übergängen
Soziale Fähigkeiten Impulsiv, unterbricht Gespräche Schwierigkeiten mit sozialen Hinweisen Sozial unbeständig, verdeckt möglicherweise Schwierigkeiten
Sensorische Empfindlichkeit Sucht oder meidet sensorische Reize Häufig sensorische Überlastung Starke Reaktionen auf Reize, schwankt zwischen Suche und Vermeidung
Routine & Flexibilität Probleme mit Organisation, mag strenge Routinen nicht Bevorzugt strikte Routinen, mag Unvorhersehbarkeit nicht Schwierigkeiten mit Struktur und Flexibilität
Emotionsregulation Impulsive emotionale Reaktionen Schwierigkeiten, Emotionen auszudrücken Intensive Emotionen, Probleme beim Erkennen von Gefühlen
Kommunikationsstil Spricht übermäßig viel, wechselt häufig Themen Bevorzugt direkte/scriptbasierte Kommunikation Schwierigkeiten mit Gesprächsbalance
Exekutivfunktionen Schlechtes Zeitmanagement, vergisst Aufgaben Starres Denken, Planungsschwierigkeiten Probleme mit Organisation und Anpassungsfähigkeit
Lernpräferenzen Lernt besser praktisch/bewegungsbasiert Bevorzugt strukturiertes, detailliertes Lernen Braucht strukturierte Unterstützung mit Flexibilität für Engagement
Häufige Stärken Kreativität, Energie, Anpassungsfähigkeit Detailgenauigkeit, tiefgehendes Wissen in Interessensgebieten Starke Mustererkennung, kreative Problemlösung


Literatur & Quellen (Auswahl)

American Psychiatric Association (APA). (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th ed.).

Antshel, K. M., Zhang-James, Y., & Faraone, S. V. (2016). The comorbidity of ADHD and autism spectrum disorder. Expert Review of Neurotherapeutics, 16(3), 123–130.

Baranek, G. T., et al. (2006). Sensory Experiences Questionnaire: Discriminating sensory features in young children with autism, developmental delays, and typical development. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 47(6), 591–601.

Craig, F., et al. (2016). Executive functioning in autism spectrum disorders: A meta-analysis. Child Neuropsychology, 22(3), 327–342.

Konrad, K., & Eickhoff, S. B. (2010). Is the ADHD brain wired differently? A review on structural and functional connectivity in attention deficit hyperactivity disorder. Human Brain Mapping, 31(6), 904–916.

Leitner, Y. (2014). The co-occurrence of autism and attention deficit hyperactivity disorder in children – what do we know? Frontiers in Human Neuroscience, 8, 268.

Mazefsky, C. A., et al. (2013). The role of emotion regulation in autism spectrum disorder. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 52(7), 679–688.

Reiersen, A. M., & Todd, R. D. (2008). Co-occurrence of ADHD and autism spectrum disorders: Phenomenology and treatment. Neuropsychiatric Disease and Treatment, 4(4), 643–655.

Rommelse, N. N., et al. (2010). Shared heritability of attention-deficit/hyperactivity disorder and autism spectrum disorder. European Child & Adolescent Psychiatry, 19(3), 281–295.

Shaw, P., et al. (2014). Emotion dysregulation in attention deficit hyperactivity disorder. American Journal of Psychiatry, 171(3), 276–293.

Tannock, R. (2000). Attention deficit hyperactivity disorder: Advances in cognitive, neurobiological, and genetic research. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 41(1), 65–99.

error: Bitte fragt das Kopieren von Textinhalten unter info@au-adhs-ambulanz.de an. Danke.