1. Einleitung: Autismus-Spektrum-Störung – Eine sich entwickelnde Definition
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASD) ist eine tiefgreifende Form von neurologischer Verschiedenheit, die in der Kindheit beginnt und sich auf die Art auswirkt, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt, kommuniziert und mit anderen in Beziehung tritt. Zu den Hauptmerkmalen zählen Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation, besondere Interessen und wiederholende Verhaltensweisen sowie eine oft ungewöhnliche Wahrnehmung von Sinneseindrücken. Der Begriff „Spektrum“ verdeutlicht dabei die große Vielfalt: Jede autistische Person ist anders, und die Ausprägungen können sehr unterschiedlich sein.
Damit Autismus richtig erkannt und eingeordnet werden kann, braucht es klare Kriterien. Diese sorgen dafür, dass Betroffene passende Hilfen erhalten, Forschung gut vergleichbar bleibt und politische Entscheidungen fundierter getroffen werden können. Im Laufe der Jahre haben sich die Definitionen immer wieder verändert. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Praxis flossen dabei ständig mit ein.
Ursprünglich wurde der Begriff „Autismus“ 1911 vom Psychiater Eugen Bleuler eingeführt, allerdings noch in einem ganz anderen Zusammenhang. Erst in den 1940er-Jahren begannen Hans Asperger und Leo Kanner, Autismus als eigenständige Form des Andersseins zu beschreiben. Eine offizielle Diagnosemöglichkeit gibt es allerdings erst seit 1980. Seitdem hat sich viel getan: Begriffe wurden angepasst, Kategorien zusammengeführt, neue Kriterien eingeführt.
Diese Entwicklung zeigt, dass Autismus keine starre Diagnose ist, sondern ein Konzept, das sich stetig weiterentwickelt. Das beeinflusst auch, wer eine Diagnose bekommt – und damit, wer Zugang zu Unterstützung hat.
Dieser Text erklärt, wie Autismus heute nach den zwei wichtigsten internationalen Systemen diagnostiziert wird: dem DSM-5 (vor allem in den USA verbreitet) und der ICD-11 (weltweit standardisiert durch die WHO). Ziel ist es, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erklären und dabei so zu schreiben, dass auch Menschen ohne medizinische Vorbildung gut mitkommen.
2. DSM-5: Die amerikanische Perspektive auf Autismus
Das DSM-5 ist ein Diagnosehandbuch, das 2013 von der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft veröffentlicht wurde. Es hat ältere Kategorien ersetzt und führt alles unter dem Oberbegriff „Autismus-Spektrum-Störung“ zusammen.
Für eine Diagnose müssen zwei Hauptbereiche betroffen sein:
1. Probleme in der sozialen Kommunikation:
- Schwierigkeiten, Gespräche zu beginnen oder zu führen
- Probleme mit Mimik, Gestik oder Blickkontakt
- Schwierigkeiten, Freundschaften aufzubauen oder zu halten
2. Wiederholende oder starre Verhaltensweisen:
- Wiederholende Bewegungen oder Sprache (z. B. Händeflattern, Echolalie)
- Starkes Festhalten an Routinen
- Sehr intensive Spezialinteressen
- Starke Reaktionen auf Sinneseindrücke (z. B. empfindlich auf Geräusche oder Berührungen)
Außerdem müssen die Symptome schon früh im Leben begonnen haben (auch wenn sie manchmal erst später richtig sichtbar werden) und im Alltag zu echten Einschränkungen führen. Die Diagnose soll nicht gestellt werden, wenn die Probleme allein durch eine andere Beeinträchtigung, wie z. B. eine kognitive Behinderung, erklärbar sind.
Das DSM-5 unterscheidet drei Schweregrade, die zeigen, wie viel Unterstützung jemand braucht – von leichtem bis sehr hohem Bedarf. Außerdem kann man angeben, ob z. B. zusätzlich eine Sprach- oder Lernbeeinträchtigung vorliegt.
Eine wichtige Neuerung war, dass frühere Einzelkategorien wie „Asperger“ oder „frühkindlicher Autismus“ nun in einer gemeinsamen Diagnose zusammengefasst wurden. Auch sensorische Auffälligkeiten wurden erstmals als fester Bestandteil aufgenommen.
Zusätzliche Kriterien:
Die Symptome müssen in der frühen Entwicklungsperiode vorhanden sein, können aber in frühen Stadien maskiert sein und erst später vollständig manifest werden, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Kapazitäten übersteigen. Die Defizite müssen zu klinisch signifikanten Einschränkungen in der effektiven Kommunikation, sozialen Partizipation, sozialen Beziehungen, schulischen Leistungen oder beruflichen Leistung führen, entweder einzeln oder in Kombination. Die Symptome dürfen nicht besser durch eine intellektuelle Beeinträchtigung oder eine globale Entwicklungsverzögerung erklärt werden.
Spezifikatoren und Schweregrade
Das DSM-5 führte drei Schweregrade ein, die den Unterstützungsbedarf widerspiegeln und für beide Kernbereiche (soziale Kommunikation und restriktive, repetitive Verhaltensweisen) separat angegeben werden. Diese Schweregrade sind entscheidend für die individuelle Diagnose und die Planung der Unterstützung, da sie die abstrakten „Level“ greifbar machen und zeigen, wie die Diagnose über eine reine Klassifikation hinausgeht, um den individuellen Unterstützungsbedarf zu erfassen. Dies ist besonders wichtig für Fachleute, die direkt mit der Anwendung dieser Kriterien in der Praxis zu tun haben.
Tabelle 1: DSM-5 Schweregrade der Autismus-Spektrum-Störung
| Schweregrad (Level) | Benennung | Soziale Kommunikation | Restriktive, repetitive Verhaltensweisen |
| Level 3 | „Sehr umfangreiche Unterstützung erforderlich“ | Schwere Defizite in verbalen und nonverbalen sozialen Kommunikationsfähigkeiten führen zu schweren Beeinträchtigungen der Funktion, sehr begrenzter Initiierung sozialer Interaktionen und minimaler Reaktion auf soziale Annäherungsversuche anderer. Zum Beispiel: Eine Person mit wenigen verständlichen Worten, die selten Interaktionen initiiert und, wenn doch, ungewöhnliche Ansätze nur zur Bedürfnisbefriedigung wählt und nur auf sehr direkte soziale Annäherungen reagiert. | Inflexibilität des Verhaltens, extreme Schwierigkeiten bei Veränderungen oder andere restriktive/repetitive Verhaltensweisen beeinträchtigen die Funktion in allen Bereichen erheblich. Großer Kummer/Schwierigkeiten beim Wechsel von Fokus oder Handlung. |
| Level 2 | „Umfangreiche Unterstützung erforderlich“ | Deutliche Defizite in verbalen und nonverbalen sozialen Kommunikationsfähigkeiten; soziale Beeinträchtigungen auch mit Unterstützung offensichtlich; begrenzte Initiierung sozialer Interaktionen; und reduzierte oder abnormale Reaktionen auf soziale Annäherungsversuche anderer. Zum Beispiel: Eine Person, die einfache Sätze spricht, deren Interaktion auf enge Spezialinteressen beschränkt ist und die eine deutlich seltsame nonverbale Kommunikation aufweist. | Inflexibilität des Verhaltens, Schwierigkeiten bei Veränderungen oder andere restriktive/repetitive Verhaltensweisen treten häufig genug auf, um für den Gelegenheitsbeobachter offensichtlich zu sein und die Funktion in einer Vielzahl von Kontexten zu beeinträchtigen. Kummer und/oder Schwierigkeiten beim Wechsel von Fokus oder Handlung. |
| Level 1 | „Unterstützung erforderlich“ | Ohne Unterstützung verursachen Defizite in der sozialen Kommunikation merkliche Beeinträchtigungen. Schwierigkeiten bei der Initiierung sozialer Interaktionen und klare Beispiele für atypische oder erfolglose Reaktionen auf soziale Annäherungsversuche anderer. Kann ein vermindertes Interesse an sozialen Interaktionen zeigen. Zum Beispiel: Eine Person, die in ganzen Sätzen sprechen und kommunizieren kann, deren Hin- und Her-Konversation mit anderen jedoch scheitert und deren Versuche, Freundschaften zu schließen, seltsam und typischerweise erfolglos sind. | Inflexibilität des Verhaltens führt zu signifikanten Beeinträchtigungen der Funktion in einem oder mehreren Kontexten. Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen Aktivitäten. Probleme bei Organisation und Planung behindern die Unabhängigkeit. |
3. ICD-11: Der globale Standard und seine Neuerungen
Die ICD-11 ist das Diagnoseverzeichnis der Weltgesundheitsorganisation und seit 2022 weltweit in Kraft. Auch hier wird nur noch von „Autismus-Spektrum-Störung“ gesprochen, statt mehrere Einzeldiagnosen zu verwenden.
Die zentralen Merkmale sind sehr ähnlich wie im DSM-5:
- Probleme in der sozialen Interaktion und Kommunikation
- Wiederholende, starre oder sehr spezielle Verhaltensmuster
Hinzu kommt, dass die Symptome früh im Leben beginnen, aber auch erst später sichtbar werden können, wenn die Anforderungen steigen. Wichtig ist, dass die Merkmale so ausgeprägt sind, dass sie den Alltag deutlich erschweren.
Die ICD-11 unterscheidet, ob jemand zusätzlich eine kognitive oder sprachliche Beeinträchtigung hat, und vergibt dafür eigene Codes. Das hilft zum Beispiel bei der internationalen Datenerhebung und Planung von Hilfen.
Was beide Systeme gemeinsam haben
- Beide verstehen Autismus als Spektrum: Es gibt keine starren Kategorien mehr wie früher.
- Die Kernmerkmale sind nahezu gleich.
- Sensorische Auffälligkeiten gelten in beiden als wichtiges Merkmal.
- Die Symptome müssen früh beginnen und den Alltag deutlich beeinflussen.
Worin sie sich unterscheiden
- Das DSM-5 vergibt Schweregrade, die ICD-11 nicht.
- Die ICD-11 trennt stärker zwischen Autismus mit oder ohne Lern- und Sprachproblemen.
- Die ICD-11 ist ein offizielles System für die Gesundheitsstatistik weltweit, das DSM-5 wird vor allem in den USA und der Forschung verwendet.
Ein kurzer Blick auf Ursachen und Begleiterkrankungen
Autismus entsteht durch eine Mischung aus genetischen und umweltbedingten Einflüssen auf die Gehirnentwicklung. Studien zeigen, dass erbliche Faktoren eine große Rolle spielen. Umweltfaktoren wie Infektionen während der Schwangerschaft können ebenfalls eine Rolle spielen, sind aber selten die Hauptursache.
Im Gehirn zeigen sich bei autistischen Menschen bestimmte Besonderheiten, z. B. bei der Verknüpfung von Nervenzellen oder in der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Diese Unterschiede führen zu den typischen Merkmalen.
Häufig treten Begleiterkrankungen auf, darunter:
- Angststörungen oder Depressionen
- Epilepsie
- Intellektuelle Beeinträchtigungen
- Sensorische Über- oder Unterempfindlichkeit
- Schlafprobleme
- Magen-Darm-Beschwerden
- ADHS
Wichtige Änderungen gegenüber ICD-10
Die ICD-11 bringt im Vergleich zur ICD-10 mehrere wichtige Änderungen mit sich:
- Anpassung an das DSM-5:
- Die ICD-11 folgt dem Vorbild des DSM-5 und fasst alle Autismus-Formen unter einem einheitlichen Begriff zusammen – der „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS). Frühere Unterteilungen wie das Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus oder „atypischer Autismus“ (PDD-NOS) entfallen damit.
- Zusammenfassung sozialer und kommunikativer Schwierigkeiten:
- Ähnlich wie im DSM-5 werden Probleme in der Kommunikation und sozialen Interaktion in der ICD-11 als ein zusammenhängendes Merkmal betrachtet. Die Unterscheidung zwischen beiden Bereichen war in der Praxis oft schwierig, da sie eng miteinander verknüpft sind.
- Berücksichtigung von Sinneswahrnehmungsbesonderheiten:
- Anders als in der ICD-10 werden ungewöhnliche Reaktionen auf Sinnesreize (z. B. Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen oder Berührungen) in der ICD-11 als fester Bestandteil der Diagnosekriterien aufgenommen.
- Unterscheidung nach geistiger und sprachlicher Entwicklung:
- Während die ICD-11 grundsätzlich das Spektrum-Konzept übernimmt, werden zusätzlich Untergruppen gebildet, je nachdem, ob eine geistige Beeinträchtigung oder Sprachschwierigkeiten vorliegen. Diese werden durch spezifische Diagnose-Codes gekennzeichnet (z. B. 6A02.0 für ASS ohne geistige Beeinträchtigung).
- Im DSM-5 werden diese Merkmale nur als Zusatzinformationen vermerkt, während die ICD-11 sie genauer erfasst. Dies könnte helfen, weltweit bessere Daten zu sammeln und gezieltere Hilfsangebote für unterschiedliche Betroffenengruppen zu entwickeln.
- Spätere Diagnose im Jugend- oder Erwachsenenalter möglich:
- Die ICD-11 berücksichtigt ausdrücklich, dass manche Menschen mit ASS erst spät im Leben auffällig werden – etwa wenn soziale Anforderungen steigen (z. B. in der Pubertät oder im Beruf). Dies unterstreicht, dass Autismus ein lebenslanges Phänomen ist und auch bei Erwachsenen diagnostiziert werden sollte.
Rolle der ICD-11 im globalen Gesundheitswesen
Die ICD-11 ist ein rechtlich vorgeschriebener Gesundheitsdatenstandard der WHO und dient als vereinheitlichter Rahmen für die Ausrichtung von Gesundheitsinitiativen auf nationaler und globaler Ebene. Sie ermöglicht eine präzisere und genauere Erfassung klinischer Details, verbessert die Datenqualität und unterstützt die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) und fortschrittlichen Analysen im Gesundheitswesen. Die ICD-11 verbessert die semantische Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit von Gesundheitsdaten für verschiedene Anwendungsfälle über reine Gesundheitsstatistiken hinaus, einschließlich Entscheidungsunterstützung, Ressourcenallokation und Leitlinien. Sie ermöglicht erstmals auch die Zählung traditioneller Medizinleistungen.
4. Vergleich und Kontrast: DSM-5 und ICD-11 im Überblick
Die weitgehende Harmonisierung der beiden führenden Klassifikationssysteme, DSM-5 und ICD-11, ist ein bedeutender Schritt zur Verbesserung der Konsistenz und Zuverlässigkeit von ASD-Diagnosen weltweit. Diese Harmonisierung erleichtert die internationale Forschung, den Vergleich von Prävalenzdaten und die Entwicklung globaler Behandlungsrichtlinien und -strategien. Trotz der umfassenden Harmonisierung bleiben feine Unterschiede bestehen, die für Kliniker und Forscher relevant sind und bei der Anwendung der Kriterien berücksichtigt werden sollten.
Tabelle 2: Vergleich der Diagnosekriterien für Autismus-Spektrum-Störung: DSM-5 vs. ICD-11
| Merkmal | DSM-5 (American Psychiatric Association) | ICD-11 (Weltgesundheitsorganisation) |
| Veröffentlichung/Inkrafttreten | 2013 | Veröffentlichung 2018, Inkrafttreten 2022 10 |
| Oberbegriff | Autismus-Spektrum-Störung (ASD) | Autismus-Spektrum-Störung (ASD) |
| Kern-Symptomdomänen | 2 Domänen: Soziale Kommunikation & Interaktion; Restriktive, repetitive Verhaltensweisen, Interessen oder Aktivitäten | 2 Domänen: Soziale Interaktion & Kommunikation; Restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten |
| Umgang mit früheren Subtypen (z.B. Asperger-Syndrom) | Zusammengeführt unter ASD | Zusammengeführt unter ASD |
| Einbeziehung sensorischer Besonderheiten | Ja, als diagnostisches Kriterium | Ja, als diagnostisches Kriterium |
| Schweregrade | Explizite „Level 1, 2, 3“ basierend auf Unterstützungsbedarf | Beschreibung der Schwere implizit durch die Funktionsbeeinträchtigung, keine expliziten nummerierten Level |
| Intellektuelle/Sprachliche Beeinträchtigung | Als „Spezifikator“ | Als „Separate Subdiagnosen/Codes“ (z.B. 6A02.0-6A02.5) |
| Alter des Symptombeginns | Symptome in der „frühen Entwicklungsperiode“ vorhanden, Manifestation der Beeinträchtigung kann später erfolgen | Beginn während der „Entwicklungsperiode“, Symptome können erst später vollständig manifest werden, wenn soziale Anforderungen steigen |
5. Grundlagen der Autismus-Spektrum-Störung: Ätiologie und Komorbiditäten
Kurzer Einblick in neurobiologische Grundlagen
Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, deren Entstehung durch eine Kombination aus genetischen Veranlagungen und Umwelteinflüssen während der Gehirnentwicklung geprägt wird.
Genetische Faktoren:
Gene spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Autismus. Schätzungsweise 80 % der Autismusfälle lassen sich auf vererbte Genveränderungen zurückführen, während die übrigen Fälle durch spontane Genmutationen entstehen. Zwischen 200 und 1000 verschiedene Gene könnten das Autismus-Risiko beeinflussen.
Umweltfaktoren:
Äußere Einflüsse können in seltenen Fällen zur Entstehung von Autismus beitragen, sind aber deutlich seltener als genetische Ursachen. Beispiele sind bestimmte Infektionen während der Schwangerschaft (z. B. Röteln) oder die Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. Valproinsäure). Es gibt jedoch keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Impfungen oder Giftstoffe nach der Geburt Autismus auslösen.
Gehirnentwicklung und -funktion:
Die Symptome von Autismus entstehen durch komplexe Veränderungen in der Gehirnentwicklung. Studien zeigen, dass bei Autisten bestimmte Gehirnbereiche (z. B. Stirn- und Schläfenlappen) vergrößert sein können, während andere (z. B. Kleinhirn oder Verbindungsbahnen zwischen Gehirnhälften) verkleinert sind.
Hirnscans deuten darauf hin, dass autistische Menschen manchmal eine geringere Aktivität in Bereichen zeigen, die für soziales Verständnis wichtig sind. Zudem könnte ein Ungleichgewicht bestimmter Botenstoffe (wie Serotonin oder Dopamin) eine Rolle spielen. Eine Theorie besagt, dass das Gehirn von Autisten weniger stark vernetzt ist, was zu Schwierigkeiten in der komplexen Informationsverarbeitung führen kann. Gleichzeitig gibt es aber auch Bereiche mit übermäßiger Aktivität.
Mutationen in Genen, die für die Entwicklung von Nervenverbindungen wichtig sind, wurden ebenfalls mit Autismus in Verbindung gebracht.
Häufige Begleiterkrankungen
Autismus tritt oft zusammen mit anderen körperlichen oder psychischen Erkrankungen auf. Etwa 80 % der autistischen Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine psychische Störung (im Vergleich zu 25 % in der Allgemeinbevölkerung). Die Unterscheidung zwischen Autismus-Symptomen und Begleiterkrankungen ist manchmal schwierig, da sich die Merkmale überschneiden.
- ADHS: Sehr häufig (30–80 % der Autisten). Manche Menschen haben beide Diagnosen und werden dann manchmal als „AuDHD“ bezeichnet.
- Angststörungen: Kommen bei 11–84 % der Autisten vor, abhängig von Alter und sozialen Fähigkeiten.
- Depressionen: Autistische Erwachsene sind viermal häufiger betroffen (ca. 40 %).
- Epilepsie: Etwa jedes vierte autistische Kind entwickelt Anfälle.
- Lernschwierigkeiten: 25–70 % der Autisten haben eine eingeschränkte geistige Entwicklung.
- Sinneswahrnehmungsprobleme: Fast 90 % der Autisten reagieren überempfindlich (z. B. auf laute Geräusche) oder unterempfindlich (z. B. Schmerzunempfindlichkeit) auf Reize.
- Schlafstörungen: 53–78 % haben Probleme mit Ein- oder Durchschlafen.
- Verdauungsbeschwerden: Mindestens 25 % leiden unter Bauchschmerzen, Verstopfung oder Blähungen.
- Weitere Erkrankungen: Zwangsstörungen, Tics, Essstörungen (z. B. extrem wählerisches Essen) sowie seltenere Stoffwechselstörungen.
6. Fazit und Ausblick
Die Diagnosekriterien für Autismus haben sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, um das komplexe Bild dieser Störung besser zu erfassen. Seit 2013 (DSM-5) und 2022 (ICD-11) gibt es international einheitlichere Standards. Beide Systeme betonen die Kernmerkmale von Autismus: Schwierigkeiten in sozialer Kommunikation sowie repetitive Verhaltensmuster.
Die Übereinstimmung zwischen DSM-5 und ICD-11 erleichtert die Diagnosestellung weltweit und fördert die Forschung. Kleine Unterschiede gibt es noch bei der Erfassung von Intelligenz und Sprachfähigkeiten. Die ICD-11 berücksichtigt außerdem, dass sich Autismus-Symptome manchmal erst später im Leben zeigen – das hilft besonders Erwachsenen, eine Diagnose zu erhalten.
Autismus ist jedoch mehr als eine Diagnose: Die Erkenntnisse über genetische und neurologische Ursachen sowie häufige Begleiterkrankungen zeigen, dass eine individuelle Betreuung entscheidend ist. Die Zukunft der Autismus-Forschung versprechen weitere Fortschritte in Diagnostik, Therapien und Lebensqualität – vor allem durch die Zusammenarbeit von Ärzten, Wissenschaftlern und Betroffenen.
7. Neueste Entwicklungen (2025)
Forschende der Princeton Universität und der Simons Foundation haben in einer groß angelegten Studie klinisch und genetisch einzigartige Subtypen entschlüsselt.
Subtyp 1 (37 %): Soziale und Verhaltens-Herausforderungen – Kernsymptome und repetitive Verhaltensmuster, Entwicklungsmeilensteine im Normbereich, Häufige Komorbidität: ADHS, Angststörung, Depression.
Subtyp 2 (19 %): Gemischte ASS mit Entwicklungsverzögerung – Verzögertes Laufen & Sprechen, weniger psychische Begleiterkrankungen, unterschiedliche Ausprägungen innerhalb der Gruppe.
Subtyp 3 (34 %): Moderate Herausforderungen, Schwächere Kernsymptome, Entwicklung meist im Normbereich, kaum psychische Komorbiditäten.
Subtyp 4 (10 %): Weitreichend Betroffene: Umfassende Entwicklungsverzögerungen, soziale & kommunikative Schwierigkeiten, oft Komorbiditäten wie Angststörungen und Stimmungsschwankungen.
Quellen
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