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Autismus, ADHS und Suizidalität

⚠ Triggerwarnung: In diesem Artikel werden psychische Erkrankungen und Suizidalität im Zusammenhang mit Autismus thematisiert.

Einleitung: Autismus und psychische Gesundheit

Autistische Menschen erleben ihre Umgebung anders – oft intensiver und mit eigenen Hürden in Kommunikation und Alltag. Diese besonderen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen führen dazu, dass psychische Belastungen im Autismus-Spektrum leider sehr häufig sind. Studien zeigen zum Beispiel, dass Depressionen und Angsterkrankungen bei Autist:innen viel häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung. Gleichzeitig fühlen sich viele Betroffene dauerhaft als Außenseiter in einer Welt, die nicht für sie gemacht scheint. Diese chronische Nichtzugehörigkeit, der ständige Stress im Alltag und wiederholte Misserfolge können die psychische Gesundheit stark beeinträchtigen. Im Folgenden beleuchte ich, warum Menschen im Autismus-Spektrum besonders vulnerabel für Stress sind, welche Rolle Kommunikationsprobleme und soziale Barrieren spielen und weshalb das Gefühl ständiger Andersartigkeit zur Belastung wird. Außerdem fasse ich Erkenntnisse zum erhöhten Suizidrisiko bei Autist:innen zusammen – sachlich und wissenschaftlich fundiert, um Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen einen Einblick in dieses wichtige Thema zu geben.

Welche psychischen Belastungen treten bei Autismus häufig auf?

Psychische Erkrankungen treten bei Menschen mit Autismus deutlich überdurchschnittlich auf. Häufig bestehen Angststörungen und Depressionen als Begleiterkrankungen (Komorbiditäten). So fand eine deutsche Studie unter erwachsenen Autist:innen eine Depressionsrate von 57 % – in der Allgemeinbevölkerung lag sie zum Vergleich bei nur etwa 6 %. Insbesondere Autist:innen ohne sichtbare geistige Beeinträchtigung (früher oft „hochfunktional“ genannt) entwickeln häufig Angststörungen, da sie einerseits ihre Unterschiede bewusst wahrnehmen und andererseits versuchen, in der sozialen Welt zu kompensieren. Über mehrere Studien hinweg wird berichtet, dass 40–96 % der Kinder im Autismus-Spektrum im Alter von 9–13 Jahren die Kriterien einer Angststörung erfüllen – vor allem diejenigen, die ihren Autismus nach außen hin stark kompensieren können. 40 % weisen als Erwachsene darüber hinaus Symptome einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung auf. Neben Ängsten und Depressionen werden auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Zwangsstörungen oder sogar Psychosen bei Autist:innen häufiger diagnostiziert. Die seelische Belastung ist also oft hoch. Viele Betroffene haben über die Jahre Ausgrenzung erlebt oder mussten lernen, mit wiederholten Misserfolgen umzugehen – sei es beim Knüpfen von Freundschaften, im Berufsleben oder im Versuch, ein unabhängiges Leben zu führen. Wenn man immer wieder versucht, „dazuzugehören“ und trotzdem scheitert, können Depressionen die Folge sein. Dieses Zusammenspiel aus inneren und äußeren Herausforderungen macht deutlich, warum psychische Gesundheit ein zentrales Thema bei Autismus ist.

Warum sind Menschen im Autismus-Spektrum besonders stressanfällig?

Stress trifft autistische Menschen oft härter und hinterlässt tiefere Spuren. Zum einen wird Stress subjektiv intensiver wahrgenommen – Reize, Anforderungen und Änderungen im Alltag können schneller überwältigend wirken. Zum anderen reagiert der Körper anders: Das vegetative Nervensystem (insbesondere der beruhigende Parasympathikus) ist bei Autist:innen tendenziell weniger aktiv, was bedeutet, dass die körperliche Erholung nach Stress verlangsamt. Hinzu kommt, dass soziale Missverständnisse und soziale Ängste wie ein Verstärker wirken: Schon kleine Konflikte oder Unklarheiten im zwischenmenschlichen Bereich erzeugen großen Stress, weil sie oft rätselhaft und unvorhersehbar erscheinen. Autistische Personen machen sich überdurchschnittlich viele Sorgen um soziale Beziehungen – sie möchten alles „richtig“ machen und niemanden verärgern, wissen aber häufig nicht genau, was eigentlich erwartet wird. Dieses Dilemma führt zu chronischer Anspannung.

Unter Stress geraten autistische Wahrnehmung und Verhalten in einen Teufelskreis: Sinnesreize werden schlechter gefiltert, weil die ohnehin schwächeren „Reizfilter“ des Gehirns unter Belastung ganz aussetzen. Die Folge ist eine Reizüberflutung, die noch mehr Stress verursacht. Gleichzeitig verstärken sich autistische Kernmerkmale unter Druck – häufig heißt es: „Unter Stress wird der Autist autistischer.“ Das bedeutet, Reaktionen wie Rückzug, Starre oder sensorische Überempfindlichkeiten treten in Stressphasen verstärkt. Viele Betroffene brauchen nach stressigen Ereignissen extrem viel Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Tatsächlich folgt die Stressverarbeitung bei Autist:innen anderen Regeln – Untersuchungen zeigen, dass oft deutlich längere Erholungsphasen nötig sind als bei nicht-autistischen Menschen. In schweren Überforderungsfällen kann es sogar zu Shutdowns oder Meltdowns kommen – das sind Zusammenbrüche bzw. Überlastungsreaktionen des Nervensystems, keine „Wutanfälle“ oder Absicht, sondern Anzeichen maximalen Stresses. In solchen Momenten hilft nur noch Rückzug und Reizreduktion, bis das Nervensystem sich stabilisiert. All dies verdeutlicht: Autistische Menschen leben oft mit chronischem Stress, der sich aus vielen alltäglichen Überforderungen zusammensetzt. Diese Dauerbelastung kann psychisch und körperlich erheblich beeinträchtigen (Langzeitstudien weisen z.B. auf erhöhte Stresshormon-Level und Folgeschäden im Herz-Kreislauf-System). Ein zentrales Problem ist, dass dieser Stress von außen nicht immer sichtbar ist – doch innerlich laufen Betroffene häufig auf Hochtouren.

Welche Rolle spielen Kommunikation und soziale Barrieren?

Kommunikation – das Miteinander-Reden und sich Verstehen – ist für Autist:innen mit besonderen Hürden verbunden. Dabei geht es weniger um den Wortschatz oder die Intelligenz, sondern um die vielen zwischen den Zeilen liegenden Signale. Kommunikation besteht aus Tonfall, Mimik, Gestik, Kontext und subtilen Andeutungen – einer „emotionalen Tonspur“ der Sprache. Während die meisten neurotypischen Menschen diese Zwischentöne intuitiv mitverstehen, sind sie für neurodivergente Menschen im Autismus-Spektrum oft nicht automatisch erfassbar. Ironie, Sarkasmus, doppeldeutige Aussagen – all das kann leicht überhört oder missverstanden werden, vor allem in Stresssituationen. Autist:innen müssen die Bedeutung hinter den Worten häufig bewusst entschlüsseln, was anstrengende Denkarbeit erfordert. Je höher der Stresspegel, desto weniger gelingt diese Interpretation. Es fehlt sozusagen der „sechste Sinn“ für Mehrdeutigkeit. Autistische Menschen denken oft sehr komplex, aber auf eine geradlinige Weise – sie sagen, was sie meinen, und erwarten das auch von ihrem Gegenüber. Viele üblichen Floskeln oder indirekten Andeutungen der Alltagskommunikation sind daher für sie verwirrend. Und auch dass bei neurotypischen Menschen eher typische, mehrdeutige Denken auf der Meta-Ebene (sprich, stets unendlich viele Interpretationsmöglichkeiten von Gesagtem mitzudenken) schlägt zu Buche. Neurodiverse Menschen wundern sich regelmäßig über die Interpretationen, die neurotypische Menschen in ihre Worte gelegt haben.

Ein einfaches Beispiel: Jemand sagt mit einem bestimmten Tonfall „Na, das ist ja interessant…“ – je nach Betonung kann das ernst gemeint, sarkastisch oder verärgert klingen. Für Autist:innen sind solche Nuancen oft nicht eindeutig hörbar. Die Folge: Missverständnisse, Verunsicherung, Rückzug oder übermäßige Anpassung. Wenn man nicht sicher weiß, wie eine Aussage gemeint war, entsteht leicht Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Autistische Personen grübeln dann unter Umständen stunden- oder tagelang darüber, was die soziale Interaktion wirklich bedeutete. Viele entwickeln Strategien, um dennoch zurechtzukommen – sie lernen auswendig soziale Regeln, beobachten und kopieren Verhaltensweisen anderer und versuchen, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Dieses Phänomen wird Masking oder Camouflaging genannt: Man „überspielt“ die eigenen autistischen Impulse, um für die Mitmenschen neurotypisch zu wirken. Zwar hilft Masking kurzfristig, soziale Situationen zu meistern, doch es ist auf Dauer psychisch sehr anstrengend. Ständig eine Rolle zu spielen, erzeugt enormen inneren Stress und verstärkt das Gefühl, nie man selbst sein zu dürfen. Zudem gehen wichtige eigene Bedürfnisse dabei unter, was die Betroffenen weiter belasten kann.

Auch auf Seiten der Umgebung gibt es Barrieren: Viele Mitmenschen sind sich der kommunikativen Besonderheiten nicht bewusst. Ein direktes Gespräch ohne Höflichkeitsfloskeln wird z.B. fälschlich als unfreundlich ausgelegt, während der autistischen Person versteckte Andeutungen oder sprunghafte Themenwechsel Probleme bereiten. Diese gegenseitige Verständigungslücke wird in der Forschung auch als „Double Empathy Problem“ diskutiert – beide Seiten missverstehen einander. Für die autistische Person resultiert daraus leider häufig soziale Isolation: Entweder zieht sie sich frustriert zurück, oder sie bleibt zwar unter Leuten, fühlt sich aber einsam, weil keine echte Verständigung zustande kommt. Langfristig können solche Erlebnisse das Selbstwertgefühl untergraben und zu der Überzeugung führen, „nicht dazuzugehören“.

Was bedeutet das Gefühl chronischer Nichtzugehörigkeit?

Viele Autist:innen beschreiben eine tiefe, anhaltende Empfindung der Nichtzugehörigkeit – als würden sie ein Leben lang draußen vor der Tür stehen und durch eine Scheibe die „echte Welt“ der anderen nur beobachten. Dieses Gefühl entsteht aus zahlreichen Erfahrungen im Laufe des Lebens: angefangen in der Kindheit, wenn soziale Interaktionen mit Gleichaltrigen scheitern, über Jugendjahre voller Andersartigkeit bis hin zum Erwachsenenalter, wo trotz fachlicher Kompetenzen oft zwischenmenschliche Stolpersteine im Beruf und Alltag auftreten. Autistische Menschen bekommen früh signalisiert, dass sie „nicht normal“ seien, und viele entwickeln das ständige Gefühl, falsch zu sein.

Soziale Ausgrenzung ist leider keine Seltenheit. Viele Betroffene wurden gehänselt oder gemobbt, weil sie anders kommunizieren oder sich zurückziehen. Andere wiederum versuchen extrem anzupassen – und gehen darin auf Kosten ihrer eigenen Identität weit über ihre Grenzen. In beiden Fällen bleibt das Erleben bestehen, nicht wirklich dazuzugehören: Entweder man wird explizit ausgeschlossen, oder man fühlt sich innerlich fremd, selbst wenn man äußerlich mitmacht. Tony Attwood, ein renommierter Autismus-Experte, prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Depressions-Attacke“. Damit meint er kurzzeitige, aber extrem intensive Einbrüche von Verzweiflung und depressiven Gefühlen, die bei autistischen Personen auftreten können – quasi implosive Zusammenbrüche, ausgelöst durch das akute Bewusstsein der eigenen Isolation und Andersartigkeit. Eine solche Depressions-Attacke ist eine ernstzunehmende psychologische Notfallsituation, in der die betroffene Person für einen Moment alle Hoffnung verliert. Sie zeigt beispielhaft, wie überwältigend das Gefühl der Nichtzugehörigkeit werden kann.

Wer dauerhaft das Gefühl hat, nirgends dazu zu passen, entwickelt verständlicherweise oft Ängste und Depressionen. Ein Großteil dieses Leids resultiert nicht aus dem Autismus selbst, sondern aus den äußeren Umständen: einer Umwelt, die kaum Rücksicht nimmt, sozialen Regeln, die kaum erklärt werden, und dem ständigen Druck, sich verstellen zu müssen. Wichtig ist, dies als Gesellschaft und als soziales Umfeld zu erkennen. Mit Akzeptanz, klarer Kommunikation und inklusiver Haltung kann viel getan werden, um autistischen Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Für die psychische Gesundheit bedeutet Zugehörigkeit – das Erleben, mit den eigenen Eigenheiten angenommen zu werden – einen enormen Schutzfaktor.

Wie hoch ist das Suizidrisiko im Autismus-Spektrum?

Besonders alarmierend sind Forschungsergebnisse zum Thema Suizidalität bei Autismus. Neuere Studien belegen, dass Menschen im Autismus-Spektrum ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko haben. So zeigte eine große schwedische Registerstudie, dass autistische Menschen durchschnittlich 2,5-mal häufiger vorzeitig versterben als Vergleichspersonen – und eine der Hauptursachen hierfür waren Suizide, vor allem bei Autist:innen ohne geistige Behinderungnews.ki.se. Insgesamt wird das Risiko, durch Suizid zu sterben, bei Autist:innen auf das bis zu Achtfache im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung geschätzt. Auch nicht-tödliche Suizidgedanken und -versuche kommen überdurchschnittlich häufig vor. In einer britischen Untersuchung überschritten 72 % der autistischen Erwachsenen einen klinischen Schwellenwert für akute Suizidgefährdung – im Gegensatz zu 33 % in einer passenden Kontrollgruppe. Dieser drastische Unterschied blieb bestehen, selbst wenn man Faktoren wie Depression, Angst oder Arbeitslosigkeit statistisch herausrechnete. Mit anderen Worten: Autismus an sich scheint ein unabhängiger Risikomarker für Suizidalität zu sein, zusätzlich zu den üblichen Risikofaktoren.

Wodurch erklärt sich dieses erhöhte Risiko? Zum Teil natürlich durch die bereits genannten Begleiterkrankungen: Depressionen, chronische Angstzustände und andere psychische Erkrankungen treiben die Suizidgefahr hoch. Doch selbst darüber hinaus gibt es autismusspezifische Risikofaktoren, die in Studien identifiziert wurden. Ein zentrales Beispiel ist das bereits erwähnte Maskieren des Autismus (Camouflaging). Sich ständig verstellen und anpassen zu müssen, steht in klarem Zusammenhang mit erhöhten suizidalen Gedanken. Eine Forschungsarbeit fand heraus, dass das Ausmaß, in dem autistische Personen in sozialen Situationen camouflagen, ein signifikanter Prädiktor für Suizidalität ist. Besonders problematisch ist hierbei, wenn die Betroffenen das Gefühl haben, nicht die Unterstützung zu bekommen, die sie bräuchten. Unerfüllte Unterstützungsbedürfnisse – etwa keine passenden Therapien, kein Verständnis im Umfeld – wurden ebenfalls als unabhängiger Risikofaktor ausgemacht. Ein weiterer Aspekt ist das Alter bei Diagnosestellung: Personen, die erst sehr spät im Leben die Erklärung „Autismus“ für ihre Andersartigkeit erhielten, zeigen teils hohe Raten an lebensmüden Gedanken. Wer Jahrzehnte ohne Diagnose verbracht hat, entwickelte oft ein tiefsitzendes Gefühl von „mit mir stimmt etwas nicht“, was die psychische Gesundheit schwer belasten kann. Umgekehrt berichtet die Forschung, dass ein frühzeitiges Verständnis der eigenen Neurodivergenz und passende Hilfen protektiv wirken können.

Nicht zuletzt spielen soziale Faktoren eine Rolle. Mobbing, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung – all das trifft viele Autist:innen und trägt zur Verzweiflung bei. Wichtig zu betonen: Frauen im Autismus-Spektrum scheinen in manchen Studien ein besonders hohes Suizidrisiko zu haben. So gab es Hinweise, dass autistische Frauen (insbesondere ohne Lernschwierigkeiten) häufiger Suizidversuche unternehmen als autistische Männer. In einer schwedischen Kohorte hatte jede fünfte Autistin mit gleichzeitigem ADHS (und ohne geistige Behinderung) mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen – ein erschreckender Wert, der zeigt, wie dringend Unterstützung in dieser Gruppe nötig ist. Allerdings sind Befunde zur Geschlechterfrage nicht immer einheitlich; klar ist aber, dass jede suizidale Äußerung bei Menschen im Autismus-Spektrum ernst genommen werden muss. Fachleute betonen, dass bei autistischen Klient:innen die gleichen Leitlinien zur Suizidprävention gelten wie bei anderen Hochrisikogruppen. Leider wurde Suizidalität bei Autismus lange unterschätzt – teilweise ging man früher irrigerweise davon aus, Menschen mit Autismus (insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen) hätten „ohnehin keine Suizidgedanken“. Diese Annahme ist durch neuere Studien eindeutig widerlegt. Heute wissen wir: Autistische Personen benötigen im Krisenfall die gleiche ernsthafte Zuwendung und professionelle Hilfe wie jeder andere Mensch in seelischer Not. Zeitgleich ist es für viele Personen unvorstellbar, sich in eine laute Akutklinik in ein Mehrbettzimmer mit mehreren dekompensierten Patienten zu bewegen !

Gibt es Unterschiede zu ADHS und anderen neurodivergenten Gruppen?

Autismus und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) werden heute oft unter dem Begriff Neurodivergenz zusammengefasst. Tatsächlich gibt es Überschneidungen – viele Menschen haben beide Diagnosen gleichzeitig, und sowohl Autist:innen als auch ADHS-Betroffene erleben häufig Konzentrationsprobleme, Reizfilterschwächen und Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Dennoch bestehen wichtige Unterschiede, gerade in Bezug auf Stress und psychische Gesundheit. ADHS ist gekennzeichnet durch Impulsivität, sprunghafte Aufmerksamkeit und oft Schwierigkeiten, Alltagspflichten zu organisieren. Die psychischen Belastungen entstehen bei ADHS-Betroffenen häufig aus Versagens­erlebnissen (etwa durch chaotisches Verhalten in Schule/Beruf) und aus zwischenmenschlichen Konflikten aufgrund impulsiver Äußerungen. Depressionen und Ängste kommen auch bei ADHS gehäuft vor – aber beim Autismus liegen die Ursachen eher in der sozialen Isolation und dem ständigen Gefühl der Andersartigkeit, wie oben beschrieben. ADHS-Betroffene gelingt es trotz Aufmerksamkeitsproblemen oft leichter, intuitiv soziale Hinweise zu verstehen; Autist:innen hingegen können organisatorisch sehr fähig sein, scheitern aber an den ungeschriebenen sozialen Regeln.

Auch beim Suizidrisiko gibt es Unterschiede. Menschen mit ADHS haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Suizidgedanken und -handlungen, vor allem wenn weitere Faktoren wie Depression, Sucht oder soziale Probleme hinzukommen. Eine besondere Gefährdung entsteht durch die Impulsivität – tragische Kurzschlusshandlungen bei vorübergehender Verzweiflung kommen hier vor. Allerdings deuten Studien darauf hin, dass Autismus als einzelner Faktor gravierendere Auswirkungen auf die Suizidalität haben kann. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn beide Diagnosen zusammentreffen: Autistische Menschen mit zusätzlichem ADHS zählen zur höchstrisikobehafteten Gruppe. In einer Untersuchung aus Schweden hatten etwa 10 % der Autist:innen mit ADHS mindestens einen Suizidversuch unternommen – siebenmal häufiger als Vergleichspersonen ohne Neurodivergenz. Zum Vergleich: Autistische Personen ohne ADHS, aber mit geistiger Behinderung, hatten „nur“ etwa doppelt so häufig Suizidversuche wie Kontrollen. Das Zusammenspiel von Autismus und ADHS kann also die Verwundbarkeit weiter erhöhen, vermutlich weil sich soziale Verständigungsprobleme und Impulsivität negativ verstärken.

Dennoch sollte man jede neurodivergente Person individuell betrachten. Nicht alle ADHS-Betroffenen haben geringe soziale Kompetenzen – und nicht alle Autist:innen sind frei von Impulsivität. Die Erfahrungen sind vielfältig. Wichtig ist, dass sowohl Autismus als auch ADHS jeweils eigene Strategien erfordern, um psychische Krisen vorzubeugen. Während bei ADHS zum Beispiel Strukturierung des Alltags und Impulskontrolle-Training im Vordergrund stehen, geht es bei Autismus oft mehr um soziale Integration, Anpassung der Umgebung (Reizreduktion, klare Kommunikation) und das Vermeiden von Überforderung. Beide Gruppen profitieren von Verständnis, Akzeptanz und spezifischen Hilfsangeboten – doch das Gefühl der sozialen Nichtzugehörigkeit ist im Autismus erfahrungsgemäß ausgeprägter und verdient besondere Beachtung.

Fazit

Autismus geht oft mit erheblichen psychischen Herausforderungen einher – nicht, weil Autist:innen „selbst schuld“ wären oder Autismus per se eine Krankheit ist, sondern weil unsere Gesellschaft bisher nicht ausreichend auf neurodivergente Menschen eingestellt ist. Die erhöhte Stressanfälligkeit, die aus sensorischer Überreizung und sozialer Unsicherheit resultiert, kann zu chronischer Erschöpfung führen. Viele autistische Menschen kämpfen mit Ängsten und Depressionen, ausgelöst durch dauernde Überforderung und das schmerzhafte Gefühl, nie dazuzugehören. Diese psychische Belastung spiegelt sich leider auch in harten Zahlen wider: eine verminderte Lebenserwartung in Zusammenhang mit einer schlechten Sensibilität für Körpersignale, einer daraus resultierenden schlechten, allgemeinen Gesundheit und ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko im Autismus-Spektrum sind durch Studien gut belegt. Hinter jeder Zahl steht jedoch das Schicksal eines Menschen, der nicht die nötige Unterstützung fand.

Für Angehörige und Fachkräfte ergibt sich daraus der Auftrag, genau hinzuschauen und zuzuhören. Autistische Menschen brauchen einen verlässlichen Rückhalt und das Signal: Du bist okay, so wie Du bist. Psychische Krisen sind bei ihnen durchaus möglich und dürfen keinesfalls unterschätzt werden – Suizidgedanken etwa sollten immer ernst genommen und professionell behandelt werden. Gleichzeitig zeigen viele positive Beispiele, dass mit dem richtigen verständnisvollen Umfeld vieles besser wird: Wenn Autist:innen weniger maskieren müssen, weil sie angenommen werden, sinkt ihr Stress. Wenn man ihre andere Art der Kommunikation respektiert und auf Augenhöhe begegnet, fühlen sie sich weniger fremd. Und wenn passende Hilfsangebote (Therapien, Selbsthilfegruppen, Job-Coaching, etc.) bereitstehen, müssen sie schwierige Lebensphasen nicht allein bewältigen.

Dieser Artikel wollte nüchtern aufzeigen, wo die Risiken liegen – aber ebenso soll er Hoffnung machen, dass Veränderung möglich ist. Psychische Gesundheit bei Autismus ist kein Randthema, sondern eine gemeinsame Verantwortung von Medizin, Gesellschaft und uns allen im Alltag. Indem wir Barrieren abbauen, klare Kommunikation fördern und Hilfe zugänglich machen, können wir dazu beitragen, dass aus einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit nach und nach echtes Dazugehören wird.


Hinweis: Die folgenden Anlaufstellen bieten Unterstützung in Krisensituationen:

  • Telefonseelsorge – Unter den kostenlosen Rufnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Du rund um die Uhr anonym Hilfe von geschulten Berater:innen. Auch ein Chat und E-Mail-Beratung sind auf telefonseelsorge.de verfügbar.
  • Krisen- und Notdienste – In akuten seelischen Notlagen kannst Du jederzeit den psychiatrischen Notdienst Deiner Region kontaktieren oder Dich an die Notaufnahme eines Krankenhauses wenden. Zögere im Ernstfall nicht, die 112 zu wählen.
  • Online-Beratung – Angebote wie die Telefonseelsorge-Online oder der Krisenchat (www.krisenchat.de) ermöglichen es Dir, per Chat oder WhatsApp schnell Hilfe zu bekommen.
  • Hilfsangebote für junge Menschen – Wenn Du jünger bist und Hilfe brauchst, kannst Du Dich z.B. an die Nummer gegen Kummer (116111) wenden oder an spezialisierte Beratungshotlines für Jugendliche.

Du bist nicht allein – es gibt immer Wege und Menschen, die Dir helfen können. Bitte hol Dir Unterstützung, wenn Du sie brauchst.


Quellen:

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Sarris, Marina: Autism and the Troubling Risk of Suicide. https://sparkforautism.org/discover_article/autism-suicide-risk/ (2022)

Cassidy, Sarah, Bradley, Louise, Shaw, Rebecca, Baron-Cohen, Simon: Risk Markers for suicidality in autistic adults (2018)

Brown, Claire, M., Newell, Victoria, Sahin, Ensu, Hedley, Darren: Updated systematic review of suicide in Autism: 2018-2024 (2024)

Corbett, Blythe A., Muscatello, Rachael, A., Blain, Scott, D.: Impact of sensory sensitivity on physiological stress response and novel peer interaction in Children with and without Autism Spectrum Disorder

Rumball, Freya, Happe, Francesca, Grey, Nick: Experience of Trauma and PTSD Symptoms in Autistic Adults: Risk of PTSD Development Following DSM-5 and Non-DSM-5 traumatic life events (2020)

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https://www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/neurodiversitaet/begleiterkrankungen-und-berufsleben (Seitenaufruf 20.05.2025)

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