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Stress sichtbar machen

Wenn der Körper nicht abschaltet: Warum Stress bei Autist:innen anders wirkt

Viele autistische Menschen – insbesondere bei zusätzlicher ADHS-Diagnose – kennen das Gefühl, ständig unter Strom zu stehen. Selbst nach ruhigen Tagen oder langem Schlaf scheint der Körper nicht wirklich in den Erholungsmodus zu finden. Was steckt dahinter?

Stress ist mehr als ein Gefühl

Stress ist nicht bloß Nervosität oder Anspannung – er lässt sich im Körper messen:

  • durch Herzratenvariabilität (HRV) – wie gleichmäßig oder unregelmäßig das Herz schlägt,
  • durch das Stresshormon Cortisol,
  • durch die Qualität des Schlafs,
  • oder über die Hautleitfähigkeit, also wie stark der Körper auf äußere Reize reagiert.

Diese Marker helfen dabei zu verstehen, wie der Körper auf Belastung reagiert – auch wenn äußerlich nichts zu sehen ist.


Wie reagiert das autistische Nervensystem?

Menschen im Autismus-Spektrum zeigen häufig eine verstärkte und verlängerte Stressantwort. Bereits kleinere Reize – ein Geräusch, ein Blickkontakt, eine Planänderung – können intensive Reaktionen im Nervensystem auslösen. Und: Auch wenn der Auslöser vorbei ist, bleibt der Körper oft noch lange im sogenannten Hyperarousal-Zustand – einem Zustand erhöhter innerer Alarmbereitschaft.

Das bedeutet: Das Nervensystem bleibt aktiv, obwohl keine akute Bedrohung mehr besteht.

Das lässt sich grafisch abbilden:

Die beiden Vergleichskurven sind aus Durchschnittswerten autistischer und nicht-autistischer Personen entstanden, welche über einen Vergleichszeitraum von zwei Monaten gemessen wurden. Die rote Kurve gehört zur autistischen Gruppe. Auffällig sind höhere Spitzen, hohe Spitzen insbesondere bei Zustandswechseln (morgendliches Aufstehen), „Tiefenentladungen“ am frühen Nachmittag (nach dem Arbeitstag) (weniger Erholung, mehr „Entladung“) und erhöhte Werte bis in die Nacht hinein. Das Energielevel bleibt in der Gesamtschau niedriger – Dekompensationsgefahr !


Warum passiert das?

Es gibt mehrere Ursachen:

  • Sensorisches Filterdefizit: Reize werden weniger gefiltert – alles kommt gleichzeitig und mit ähnlicher Intensität an. Und: Je gestresster die Person mit Autismus ist, desto schwächer werden die Reizfilter. Je schwächer die Reizfilter sind, umso gestresster wird die autistische Person.
  • Langsame Habituation: Wiederholte Reize verlieren kaum an Wirkung – selbst bekannte Geräusche oder Routinen lösen immer wieder Reaktionen aus.
  • Soziale Unsicherheit: Zwischenmenschliche Situationen wirken oft unvorhersehbar oder emotional unklar – das erzeugt inneren Alarm.
  • Schwache Selbstregulation: Vielen fehlen verlässliche innere Mechanismen, um nach Stress wieder aktiv in den Entspannungsmodus zu wechseln.

Was bedeutet das im Alltag?

Auch in vermeintlich ruhigen Phasen bleibt der Körper im Bereitschaftszustand. Die Folgen:

  • Schlaf wird leichter, kürzer oder weniger erholsam
  • Tiefgreifende Erschöpfung trotz Ruhe
  • Konzentrationsstörungen, emotionale Labilität, Reizüberempfindlichkeit
  • Selbstschädigendes Kompensations-Verhalten um den Stress nicht zu spüren (Stress wird nicht reguliert, sondern überschrieben, zur Seite gedrückt)

Auch körperliche Symptome können Folge des chronischen Stresserlebens sein:

  • „Paradoxer“ Bluthochdruck – Erhöhung im Körperstamm, Erniedrigung in den Extremitäten (Dauerkalte Hände/Füße)
  • Autoimmunerkrankungen
  • Übergewicht
  • Insulinresistenz
  • Zyklusstörungen, Libidoverlust
  • Magen-Darm-Beschwerden

Diese Symptome sind nicht „eingebildet“, sondern lassen sich vielfach durch physiologische Messungen bestätigen. So zeigen kontinuierliche Stressdaten bei Autist:innen – etwa über HRV-Sensoren oder ähnliche Messmethoden – ein deutlich erhöhtes Grundstressniveau und eine verminderte nächtliche Regeneration. Die Auswirkungen der Stressexposition werden eher unter- als überschätzt und oftmals abgetan mit dem Satz: „Jeder hat mal ein bisschen Stress.“

Auch psychische Folgeerkrankungen belegen eindrucksvoll, wie schädigend die dauerhafte Stressexposition auf Autisten wirkt. 40-96 % (!) der Kinder mit Autismus im Alter von 9-13 Jahren erfüllen eine oder mehrere Kriterien für eine psychopathologische Angststörung, insbesondere solche Kinder, die hochkompensiert sind. Erhöhte Werte bestehen bei fast allen stressbedingten Folgeerkrankungen.


Was Forschung und Daten belegen

Studien zeigen:

  • Das Cortisol (Stresshormon) bleibt bei Autist:innen nach Belastung länger erhöht als bei neurotypischen Menschen.
  • Die Herzratenvariabilität (HRV) ist häufig dauerhaft reduziert – ein Zeichen für eingeschränkte Anpassungsfähigkeit des autonomen Nervensystems.
  • Die Erholung nach Stress ist verzögert oder bleibt aus – man spricht von „gestörter parasympathischer Reaktivierung“.
  • Auch Menschen mit ADHS zeigen teils verlängerte Stressreaktionen – vor allem bei impulsiven Typen.

Diese physiologischen Muster erklären, warum sich Betroffene auch nach ruhigen Tagen oder scheinbar entspannenden Aktivitäten nicht wirklich erholt fühlen – der Körper schaltet nicht in den Reparaturmodus.

Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen „Jeder hat mal ein bisschen Stress.“ und dem autistischen Erleben.


Was hilft?

Hinaus aus dem Stress ! Wenn der Shutdown/Meltdown schon droht: Sofort. Sinnvoll sind:

  • Reizarme Spaziergänge oder kleine Naturerfahrungen
  • Pausen ohne Ziel und Reizinput – etwa 30 Minuten absichtsloses „Nichtstun“
  • Regelmäßiger Schlafrhythmus
  • Bewusste Reizvermeidung am Abend (Bildschirmzeit, Gespräche, Lärm)
  • Beschäftigung mit Spezialinteressen

Auch therapeutische Unterstützung – etwa zur Selbstregulation, Reizverarbeitung oder Stressbewältigung – kann helfen, das Nervensystem langfristig zu entlasten.

Aber: Wenn eine bestimmte Schwelle überschritten ist, kann das (absolute) Ruhebedürfnis Tage- oder Wochenlang anhalten. Der betroffenen Person dies zu zu gestehen ist dann alternativlos.


Fazit

Autistische Nervensysteme reagieren anders – nicht schwächer oder weniger belastbar, sondern empfindsamer und weniger anpassungsfähig. Stress ist für viele kein kurzer Moment, sondern ein dauerhafter Zustand, der den Körper erschöpft.

Wer das versteht, kann besser mit sich selbst umgehen – oder andere gezielter unterstützen.


Quellen:

Spratt et al. (2012): Autistic and ADHD children show enhanced cortisol reactivity and slower recovery to stress
Journal of Autism and Developmental Disorders, 42(6), 1342–1354.
→ Zeigt: Verstärkte Cortisolausschüttung und verzögerte Erholung nach Stress bei ASS + ADHS.

Kushki et al. (2013): Autonomic nervous system function in children with autism spectrum disorders
Frontiers in Integrative Neuroscience, 7:34.
→ Belegt reduzierte HRV und erhöhte Herzfrequenz bei autistischen Kindern – Zeichen für chronisches Hyperarousal.

Thapa et al. (2021): Heart rate variability and its implication for stress and mental health
Journal of Clinical Medicine, 10(18), 4037.
→ HRV als objektiver Marker für Stress – niedrige HRV = geringe Anpassungsfähigkeit.

ADXS.org (Fachportal ADHS): Stressreaktionen bei ADHS-Typen
→ Zusammenfassung: Der hyperaktive ADHS-Typ zeigt oft verlängerte Stressantworten.

Zeitschrift „Menschen“ (2023): Hyperarousal bei Autismus – neurobiologische Grundlagen und Alltagsfolgen
→ Sehr gute deutschsprachige Übersicht zu Filterproblemen, Amygdala-Hyperreaktivität und Selbstregulationsdefiziten.

Hirvikoski et al. (2016): Premature mortality in autism spectrum disorder

Cassidy et al. (2018): Risk markers for suicidality in autistic adults

McQuaid et al. (2022): Camouflaging in autism spectrum disorder: Examining the roles of sex, gender identity, and diagnostic timing

Vanderbilt University Medical Center (vumc.org): Sleep and Arousal in Neurodevelopmental Disorders
→ Reizoffenheit, Schlafstörungen und eingeschränkte Regeneration bei autistischen Personen.

MappingIgnorance.org: The brain of autism: A hyper-connected amygdala?
→ Diskutiert die überaktive „Angstzentrale“ bei ASS als Ursache für Dauerstress in sozialen Situationen.

pmc.ncbi.nlm.nih.gov (NIH): Cortisol and immune regulation
→ Dauerhaft erhöhtes Cortisol unterdrückt Immunsystem und erschwert Erholung.

Corbett et al: Impact of Sensory Sensitivity on Physiological Stress Response and Novel Peer Interaction in Children with and without Autism Spectrum Disorder, 2016.

Sowie Neff (2023), Baron-Cohen et al. (2022), Zheng et al. (2021).

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