
In der Diskussion um geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung gibt es einen Bereich, der oft weniger Beachtung findet, aber dennoch von Bedeutung ist: die Überschneidung mit dem Neurodiversen Spektrum. Die Forschung dazu ist noch neu und hat Anfang der 2010er Jahre an Fahrt aufgenommen.
Autismus führt nicht zu trans* Identitäten und nicht alle trans* Personen sind autistisch. Studien zeigen allerdings einen messbaren Zusammenhang, der zunehmend erforscht wird.
Was sagt die Forschung?
Eine Metaanalyse von Warrier et al. (2020) im Journal of Autism and Developmental Disorders (basierend auf 17 Studien) kam zum Schluss, dass trans* Personen signifikant häufiger Autismus-Merkmale zeigen als die Allgemeinbevölkerung. Ebenso berichten autistische Menschen häufiger von Geschlechtsinkongruenz (dem Gefühl, dass das angeborene Geschlecht nicht der Identität entspricht).
Mögliche Erklärungsansätze (noch in Diskussion):
- Andere Wahrnehmung sozialer Normen: Autistische Menschen verarbeiten soziale Informationen oft unkonventionell. Gesellschaftliche Geschlechternormen mögen für sie weniger bindend sein, was die Exploration der eigenen Identität erleichtern könnte.
- Intensive Selbstreflexion: Der für Autismus typische Fokus auf bestimmte Themen kann sich auch auf die Geschlechtsidentität richten – etwa durch tiefgehende Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild.
- Sensorische Faktoren: Viele autistische Menschen haben eine besondere sensorische Sensibilität. Diskrepanzen zwischen Körperwahrnehmung und Identität (z.B. durch Kleidung oder Körpermerkmale) könnten dadurch stärker ins Gewicht fallen.
- Neurodiverse Entwicklungswege: Identitätsbildung verläuft bei autistischen Menschen möglicherweise anders als bei neurotypischen Personen – was auch geschlechtliche Vielfalt einschließt.
Warum ist das relevant?
- Unterstützung verbessern: Das Wissen um diese Überschneidung hilft, bedarfsgerechte Angebote für autistische trans* Personen zu schaffen – etwa in Therapie oder Beratung.
- Pathologisierung vermeiden: Weder Autismus noch trans* Identitäten sind „Fehlentwicklungen“. Die Korrelation unterstreicht stattdessen die Vielfalt menschlicher Erfahrungen.
- Sensibilisierung in Fachkreisen: Ärztinnen oder Therapeutinnen sollten für beide Aspekte geschult sein, um Fehldiagnosen oder Überlastung der Betroffenen zu vermeiden.
Fazit
Die Überschneidung von Autismus und geschlechtlicher Vielfalt ist wissenschaftlich gut belegt. Sie fordert uns auf, Identität jenseits starrer Kategorien zu denken – und eine Gesellschaft zu gestalten, die neurodiverse und geschlechtliche Vielfalt gleichermaßen wertschätzt.
Quellen & Anmerkungen
- Primärquelle: Warrier, V. et al. (2020). Metaanalyse zu Autismus und Geschlechtsidentität.
- Weiterführend:
- Strang, J. F. et al. (2022). Aktuelle Übersicht zu klinischen Implikationen.
- Hinweis: Manche Studien finden höhere Raten bei Personen, die bei Geburt als weiblich eingestuft wurden (AFAB).